Im Juli ist noch Corona-Saison, Jens Ehm erreicht man online im Homeoffice und nicht an seinem Arbeitsplatz im Rechenzentrum des Stahlwerks in Bremen. Auf dem Werksgelände, zwischen Weser und Autobahn gelegen, läuft derweil weiterhin dünngewalzter Stahl von den Bändern, allerdings wird nur noch der größere der beiden Hochöfen befeuert, denn die Produktion ist mangels Nachfrage gedrosselt. Im Stahlwerk, das zum Konzern ArcelorMittal gehört, leitet der promovierte Mathematiker das Digital Lab.

EhmsJens Ehm. Foto: ArcelorMittal Bremen

Guten Morgen, Herr Ehm, das Digital Lab gibt es erst seit zwei Jahren, und ich habe gelesen, dass es den Auftrag hat, digitale Technologien im Stahlwerk Bremen einzuführen. Gab es die nicht schon vorher?

Ja, klar. Digitalisierung an sich ist nicht neu, aber es gibt diesen Begriff der Industrie 4.0. Der Grundgedanke ist, dass sich durch die Kombination verschiedener Technologien ganz neue Möglichkeiten eröffnen, von denen man sagt, dass sie das Potenzial haben, die Produktion zu revolutionieren, so wie früher der Webstuhl oder das Fließband. Technologien wie Big-Data-Plattformen einzuführen und zu erklären, wofür man die braucht, genau das ist jetzt mein Job.

Sie haben Technomathematik an der Universität Bremen mit Schwerpunkt Produktionstechnik studiert. War Ihr Weg zum Manager im Stahlwerk dadurch praktisch vorgezeichnet?

Die Stahlbranche ist erst relativ spät in meinen Fokus geraten. Während des Studiums habe ich als studentische Hilfskraft immer an Forschungsthemen gearbeitet, zunächst bei Fraunhofer MEVIS in Richtung Bildverarbeitung. Danach bei den Thermodynamikern im Fachbereich Produktionstechnik der Uni Bremen. Da ging es um einen neuen Werkstoff und die Modellierung der Eigenschaften. Leitfähigkeit durch Nanopartikel, das war damals, vor zehn Jahren, ein ganz heißes Thema. Ich habe das Studium genutzt, um alles Mögliche auszuprobieren. Und erst gegen Ende habe ich gemerkt, dass ich in dieser Richtung, der Kombination von Mathematik und Forschung nicht weitermachen möchte, sondern dass ich, auch wenn Technomathematik schon die angewandte Seite der Mathematik ist, noch näher an den eigentlichen Prozessen arbeiten möchte. In meiner Diplomarbeit habe ich dann eine Maschinensteuerung programmiert für ein Unternehmen in Berlin, das Roboter entwickelt und vertreibt, die winzige Mengen Flüssigkeit auf Glasträger aufbringen. Die Tropfen sind so klein, dass man sie gerade noch mit bloßem Auge erkennen kann. Die Maschinen sollten schneller werden und meine Aufgabe war es, einen Algorithmus zu schreiben, der den Weg optimiert, so dass die Maschine wirklich nur dort hinfährt, wo auch ein Tropfen hin muss. Algorithmisch gesehen war das ein Logistikproblem, nämlich den optimalen Weg durch eine Menge von Punkten zu finden.

In Ihrer Doktorarbeit haben Sie ebenfalls an einem Optimierungsproblem gearbeitet.

Richtig, das baute auf dem auf, was ich in der Diplomarbeit gemacht hatte. Das Thema war die integrierte Planung von Produktion und Transport. Das ist ein industrierelevantes Thema, weil es in der Industrie in der Regel so ist, dass Produktion und Logistik jeweils für sich und unter bestimmten Kriterien geplant werden. Man will Maschinen möglichst gut auslasten, möglichst geringe Kosten haben, man will das Personal möglichst gut auslasten, wenn es da ist. Dann sollen die fertiggestellten Produkte weitertransportiert werden, zum Kunden oder zu einem anderen Werk, und das plant man wieder unter bestimmten Gesichtspunkten. Beispielsweise sollen die LKWs besonders gut ausgelastet sein, oder die hergestellten Produkte früh genug am Hafen stehen, weil die Liegezeiten für die Schiffe teuer sind. Ich habe untersucht, wie viel Einsparpotenzial darin steckt, wenn man von vornherein alles, was da stattfindet, plant – und zwar unter der Annahme, dass die Planung für die Produktion und vielleicht auch für den Transport nicht ideal ist, dass aber das Gesamtoptimum für die Firma besser sein kann.

Wenn man sich die Abläufe im Stahlwerk in Bremen in groben Zügen vor Augen führt – der Brennstoff für den Betrieb der Hochöfen wird per Zug unter anderem aus dem Ruhrgebiet angeliefert, auf dem sieben Quadratkilometer großenWerksgelände wird aus Roheisen Flachstahl hergestellt, der dann zu Brammen und anschließend zu warm- oder kaltgewalztem und feuerverzinktem Feinblech weiterverarbeitet und an die verschiedenen Unternehmen der Automobil-, Maschinenund Geräteindustrie, Rohr-, Bau-, und Verpackungsindustrie geliefert wird – dann kann man sich vorstellen, dass das, was Sie erforscht haben, eine wichtige Fragestellung für einen Stahlkonzern ist.

Ja, es war das Thema meiner Präsentation beim Bewerbungsgespräch, und es wurde als sehr relevant betrachtet. Das war ein guter Einstiegspunkt, um in Verhandlungen zu treten. Wie essenziell diese Planung aber in allen Bereichen der Produktion und des Transportes ist, das ist mir erst richtig bewusst geworden, seitdem ich selbst in der Industrie tätig bin. Wobei ich sagen muss, in meiner jetzigen Tätigkeit im Digital Lab verfolge ich das nur noch am Rande.

Wie arbeiten Sie und Ihre Kollegen im Digital Lab?

Wir screenen den Markt, wir schauen, welche neuen Technologien es gibt und vor allem: Welche sind für uns relevant? Wir nutzen keine Technologien, nur weil sie neu sind.

Haben Sie ein Beispiel?

RFID-Tags beispielsweise, die sind seit 15 Jahren auf dem Markt, man kann reihenweise fertige Lösungen kaufen.

Eine Art Etikett, das mit Hilfe elektromagnetischer Wellen erkannt werden kann.

Ja, das ist für uns wichtig, nicht weil es neu ist, sondern weil wir damit hier neue Dinge tun können – beispielsweise Transparenz schaffen. Mit RFID kann man automatisiert erkennen, wo sich ein bestimmtes Teil gerade befindet und ob ich jetzt gerade das Teil habe, das ich brauche. Im Warmwalzwerk zum Beispiel, dort wo aus der Stahlbramme ein Coil gemacht wird, ein filigranes aufgewickeltes Stahlband, ist das extrem wichtig. Der Stahl läuft dort durch sehr viele Walzen, bei mehreren hundert Grad Celsius und bei hohem Druck. Sie sind daher sehr beansprucht und müssen alle paar Stunden getauscht werden, kontinuierlich, denn das Werk läuft ununterbrochen, an sieben Tagen 24 Stunden. Die Walzen werden für ihre nächste Verwendung mit einem speziellen Schliff genau vorbereitet. Daher ist es extrem wichtig, immer die richtige Walze zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu haben. Das sicherzustellen, darauf wird sehr viel Aufwand verwendet. Bisher wurden die Walzen per Hand beschriftet, ebenso die Lager, auf die sie gesetzt werden. Durch die hohe Belastung der Walzen sind die Nummern oft schlecht zu lesen, da sieht dann eine 9 schnell mal aus wie eine 3. Wenn aber eine Walze fehlt, steht die ganze Anlage still. Daher haben wir entschieden, dort ein RFIDSystem einzuführen. Das heißt, die einzelnen Elemente werden mit einem RFID-Tag versehen und an den Stellen der Walzstraße, an denen ich wissen möchte, ob ich das richtige Stück habe, kann das automatisiert überprüft werden. Der Kranfahrer muss nicht mehr umständlich Eingaben per Hand machen. Das verhindert Fehler wie zum Beispiel Zahlendreher. Zu guter Letzt kann man mit so einem RFID-gestützten Lagerverwaltungssystem den Materialfluss automatisiert und lückenlos nachvollziehen. Trotzdem war diese Einführung wegen der hohen Walztemperaturen und weil der RFID-Funk nicht so gut in einer metallischen Umgebung funktioniert, für uns mit einem Risiko verbunden. Daher haben wir uns in kleinen Schritten genähert, wir nennen diese Vorgehensweise Proof of Concept, diese Arbeitsweise ist bei den Digitalisierungsthemen vorgegeben.

Wie lange dauert so ein Prozess von der Auswahl über die Erprobung bis zum Einsatz?

Unsere Maßgabe ist, dass ein Proof of Concept drei Monate dauert, nicht länger. Das heißt, man bewertet Themen relativ schnell, aber nicht notwendigerweise umfassend. Man probiert danach vielleicht eine andere Lösung aus oder man macht weiter, klärt aber noch diese oder jene Frage und dann folgt eine Machbarbarkeitsstudie, oder man sagt, das ist ein gutes Thema, daraus machen wir ein Projekt. So ein Projekt beginnt mit einer ersten Idee, dann trifft man sich mit den Verantwortlichen im Unternehmen und holt noch weitere Expertise von außen dazu, vielleicht jemand der einen ähnlichen Anwendungsfall hatte, um auszuloten, worum es überhaupt geht. Wir wollen nicht irgendeinen, sondern den vielversprechendsten Weg wählen. Dann gibt es mehrere Treffen und man startet das Proof of Concept. Wenn daraus ein Projekt wird, dauert es in der Regel auch noch mal ein paar Monate oder ein halbes Jahr. Insgesamt also etwa ein Jahr, wobei das eher schnell ist für ein großes Projekt.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie die Fragen zur integrierten Planung nur noch am Rande verfolgen, inwiefern hat Ihre Arbeit noch mit Mathematik zu tun?

Ab und zu kommt sie ins Spiel. Es geht dann fast immer um Optimierungen an bestehenden Prozessen oder an Anlagen. In der Automatisierungsabteilung haben wir eine Gruppe, die sich mit mathematischer Modellierung und Simulationsmodellen beschäftigt, was auch bei Themen wie Künstliche Intelligenz und Big Data, eine Rolle spielt. Das heißt, dort gibt es großes Potenzial unter den Mitarbeiten, und das Potenzial müssen wir nicht nur erkennen, sondern gemeinsam diskutieren und nutzen. Auf der Managementebene müssen wir diese Themen durchdringen und den Werkzeugkasten kennen. Dafür möchte ich die Algorithmus- und Optimierungsthemen, die ich mal gelernt habe, nicht missen.

Sie arbeiten also viel mit Mathematikern zusammen?

Ja, auch wenn ich mich selbst nicht in die Mathematik vertiefe. Und im Digital Lab selbst sind wir zwei Technomathematiker, die beiden anderen haben Elektrotechnik und Informationstechnologie studiert.

Wenn Sie an Ihren Arbeitsalltag denken, was sind Ihre Haupttätigkeiten?

Das ist eine ganz gute Mischung. Es gibt viele Besprechungen – das gehört zum Projektgeschäft – mit Kollegen aus dem operativen Betrieb, weil es ja immer um Anwendungsfälle geht. Das sind Lagerarbeiter, Lagerleiter und Projektingenieure, die vor Ort die Projekte leiten, und die Kollegen aus der Automatisierungsabteilung, die das vor Ort umsetzen. Das Digital Lab hat außerdem alle drei Monate einen Austausch mit dem gesamten Vorstand des Unternehmens. Dort präsentieren wir den Stand der Digitalisierung und die aktuell laufendenden Projekte. Es gibt einen großen Kommunikationsbedarf, weil alle wissen wollen, was gerade im Bereich Digitalisierung passiert. Ein Teil unserer Arbeit ist auch Recherche und die Vernetzung mit Digitalisierungseinheiten in anderen Unternehmen aus Bremen und darüber hinaus.

Gibt es Aufgaben, an denen Ihnen besonders viel liegt?

Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich denke, dass Digitalisierung nur funktioniert, wenn ein gemeinsames Verständnis entsteht. Es gibt Schlagwörter, mit denen viele nichts anfangen können. Und das erzeugt aus meiner Sicht oftmals eine ablehnende Reaktion, so wie: Was ist denn daran neu, das hatten wir alles schon! Aber digitale Lösungen funktionieren nur und bringen nur einen Benefit, wenn sie von vielen Leuten verstanden werden. Und dieses Erklären, das ist ein großer Teil unseres Jobs. Aus dem Grunde haben wir das Digital Lab auch vor Ort eingerichtet, und dort zeigen wir die Funktionsweise vorher schon mal im kleinen Maßstab und machen sie buchstäblich begreifbar. Wenn ich sage, wir schaffen eine neue Prozesstransparenz, ist das das eine. Wenn ich aber jemandem im Lab die verschiedenen Tags zeige und sage, der aus Plastik, der funktioniert nicht, aber wir haben den aus Metall, sieh mal, wie der hält. Und dann bekommen Mitarbeiter den Handscanner, probieren den aus und merken, wow, diese Information kann ich auf dem Bildschirm sehen, das wird mir bei der Arbeit helfen. Diesen Moment zu erzeugen, das ist es, woran mir am meisten liegt. Weil ich merke, dass man wirklich etwas bewegen kann, dass man von einer ablehnenden Haltung zu einem Wow-Effekt kommt.

Wie bereiten sich Studierende am besten vor, wenn sie in so einer klassischen Industriebranche wie der Stahlindustrie arbeiten möchten?

Zu den Grundkenntnissen, die man sich aneignen sollte, gehört Programmieren und auch etwas Optimierungswissen. Im Studiengang Technomathematik kommt man um diese Themen gar nicht drum herum und auch in der modernen Mathematik wird das vermittelt, aber man sollte das schon forcieren. Bei den Themen, die man selbst wählen kann, beispielsweise bei Abschlussarbeiten, würde ich versuchen, an den spannenden Themen dran zu sein, und das ist heute die Künstliche Intelligenz. Denn zu den Hype-Themen von heute suchen die Unternehmen morgen und übermorgen auch Expertise. Und wenn man sich zumindest mal im Rahmen eines Projekts damit beschäftigt hat, dann erleichtert das den Einstieg. Und im Laufe des Studiums – in den Mathematikstudiengängen ist das noch nicht so verbreitet – in die Industrie hineinzuschauen als Praktikant, als Werkstudent oder im Rahmen einer Abschlussarbeit, das würde ich absolut empfehlen.

Ist Mathematik für Sie nur Beruf oder auch Berufung?

Wenn es Berufung wäre, dann hätte ich wahrscheinlich nach dem Studium nicht den Wechsel in Richtung Ingenieurwissenschaften gemacht. Ich finde aber, in der Mathematik stecken viele Dinge, die sehr gut in anderen Disziplinen aufgehoben sind. Zum Beispiel die Exaktheit. Wenn man zum Beispiel den Begriff Industrie 4.0 wirklich definieren und mit Leben füllen will, dann tut es der Sache gut, mit dem Anspruch der Exaktheit daranzugehen. Insofern möchte ich die Mathematik auf gar keinen Fall missen.

 

Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de