Daniel Grieser lehrt Mathematik – und das leidenschaftlich. Als er vor einigen Jahren mit seinen Kollegen am Institut für Mathematik der Universität Oldenburg über die hohe Zahl der Studienabbrecher diskutierte, erinnerte sich der Professor daran, was in seinem eigenen Studium schon zu kurz gekommen war: das Erlernen von Problemlösungsstrategien. Er legte los und entwickelte ein neues Modul für das Bachelorstudium: MPB – Mathematisches Problemlösen und Beweisen. Seit dem Wintersemester 2011/2012 gehört es zum Curriculum, im Studiengang Lehramt für Gymnasien ist es Pflicht. Die Studierenden dankten es ihm. Sie nominierten ihn für den „Preis der Lehre“, den die Hochschule ihm 2012 dann auch verlieh. 2014 folgte die nächste Auszeichnung: der Ars legendi- Fakultätenpreis für exzellente Hochschullehre des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.

GrieserDaniel Grieser. Foto: Philipp Herrnberger/Campus Wechloy

Warum liegt Ihnen das Erlernen von Problemlösungsstrategien so am Herzen?

Weil solche Strategien in der Mathematik sehr nützlich, aber für Mathematiker eine solche Selbstverständlichkeit sind, dass man sie nicht mehr formuliert. Auch im Studium nicht. Aber die Schüler kommen nicht mit dieser Kompetenz an die Uni. Jetzt kann man natürlich sagen, die Studierenden bekommen das schon irgendwann mit und wer nicht, der ist im Mathematikstudium fehl am Platz. Das ist aber genau die Haltung, die uns mehr Studienabbrecher als nötig beschert. Daher kam uns die Idee, Problemlösestrategien ganz zu Anfang des Studiums zu thematisieren. Das gibt uns auch Gelegenheit, den Studierenden zu zeigen, was für spannende, hübsche Probleme die Mathematik bereithält. Das motiviert viele.

Das von Ihnen entwickelte Modul MPB – Mathematisches Problemlösen und Beweisen soll den Übergang von der  Schule ins Studium erleichtern. Wie funktioniert das?

Fangen wir zunächst andersherum an. Wo liegt das Problem? Das Studium der Mathematik ist sehr systematisch aufgebaut. Man sagt: Hier ist eine Definition und jetzt beweise ich etwas darüber, und nach einer Weile habe ich ein beeindruckendes Theorie-Gerüst konstruiert. Es gibt gute Gründe, das so zu machen. Fachlich ist das effizient. Das Problem ist aber, dass vieles bei den Adressaten, den Studierenden, nicht ankommt. Ein Beispiel: Zu Beginn des Studiums werden die Axiome der reellen Zahlen eingeführt. Damit wird dann bewiesen, dass jede Quadratzahl größer oder gleich Null ist.Weil aber sowieso jeder weiß, dass das so ist, motiviert diese Art von Beweis nur die wenigsten. Viele sehen fortan Beweise als lästige Pflicht an. Ein rein systematischer Aufbau hat weitere Nachteile: Die Ausgangsprobleme, die zur Entwicklung der Theorien geführt haben, werden nicht deutlich und die kreative Seite der Mathematik kommt zu kurz. Viele Studierende sind von Hausaufgaben, die den neuen Stoff nicht nur einüben, sondern zusätzlich Ideen erfordern, überfordert.

Was machen Sie anders?

Uns ist wichtig, dass die Studierenden merken, dass Beweise ihnen interessante Einsichten bringen. Und dass sie erleben, wie sie selbst mathematische Argumente finden können. Hier kommen die Problemlösestrategien ins Spiel. Die Probleme und Beweisaufgaben, die wir hier stellen, entstammen bekannten Kontexten: Stoff der Mittelstufe, zum Beispiel ganze Zahlen oder elementare Geometrie. Wenn die Studierenden hier Selbstvertrauen gewinnen, fällt es ihnen auch leichter, später die abstrakteren Inhalte des Studiums aufzunehmen.

Können Sie Ihre Vorgehensweise an einem Beispiel erläutern?

In der ersten Vorlesung stelle ich zum Beispiel folgendes Problem: Auf wie viele Nullen endet die Zahl 100!, also hundert Fakultät? Wenn man 1 x 2 x 3 x 4 usw., alle Zahlen bis hundert multipliziert, kommt eine riesige Zahl mit einer gewissen Anzahl von Nullen am Ende heraus. Das kann sich jeder leicht vorstellen. Die Frage ist: Wie viele sind es? Da hilft kein Taschenrechner. Wie kann man also vorgehen? Ich sehe mir erst kleinere Zahlen an. Wie viele Nullen stehen bei 4!, 5!, 6! am Ende? Warum tritt die erste Null bei 5! auf? Wann kommt die zweite Null? Welcher Mechanismus liegt dem zugrunde? So arbeitet man sich schrittweise an das Problem heran. An diese entdeckende Phase schließt sich natürlich das schlüssige Begründen der gefundenen Lösung an.

Wie lässt sich dieses Konzept in einem großen Hörsaal umsetzen?

Uns kommt es auf eine aktive Rolle der Studierenden an. Das muss sich natürlich auch in der Lehrveranstaltung niederschlagen. Das Modul setzt sich aus zwei Stunden Vorlesung und zwei Stunden Übung pro Woche zusammen. In der Vorlesung sitzen etwa 200 Studierende. Trotzdem ist es kein reiner Frontalunterricht. Etwa Dreiviertel der Zeit besteht darin, dass die Studierenden über Fragen nachdenken und wir gemeinsam darüber diskutieren.
Ich stelle also ein Problem und erläutere es, damit klar ist, was genau gefragt ist. Dann sage ich: Sie haben jetzt fünf Minuten Zeit, denken Sie darüber nach. Auch wenn die Studierenden die Lösung nicht herauskriegen, ist jede Minute des Selbernachdenkens viel wert. Einige melden sich dann mit Lösungsvorschlägen. Ich greife diese auf, entwickle sie im Dialog mit den Studierenden weiter, gebe auch Anregungen, schlage zum Beispiel Heuristiken vor oder erinnere an ähnliche Probleme. Und manchmal greife ich gerade den Vorschlag auf, der nicht zum Ziel führt. So lernen meine Studierenden, wie ein erfahrener Mathematiker vorgeht. Was mache ich, wenn ich stecken bleibe? Später, wenn sie bei ihren Hausaufgaben in diese Situation geraten, werden sie sich daran erinnern.

Hat sich die Abbrecherquote seit der Einführung des Moduls verändert?

Ja, sie ist leicht zurückgegangen. Aber natürlich ist es schwierig, die Ursachen genau zu benennen. Es gibt immer mehrere Gründe für Schwankungen, und jeder Jahrgang ist unterschiedlich. Bei uns brechen 30 bis 40 Prozent eines Jahrgangs das Bachelor-Studium ab. Bundesweit ist es an den Universitäten mehr als jeder Zweite.

Warum halten Sie gerade die Schulung in mathematischer Problemlösungskompetenz für den richtigen Weg?

Jeder, der sich überlegt, wie wir den Übergang von der Schule an die Hochschule verbessern können, muss sich gleichzeitig fragen, wie machen wir das, ohne die Ansprüche herunterzuschrauben. Wie also können wir den
Übergang erleichtern und dennoch unsere wissenschaftlichen Ansprüche aufrechterhalten? Den Aspekt des Problemlösens stärker zu betonen, ist eine mögliche Antwort auf diese Frage. Denn das Problemlösen ist eine fundamentale Aktivität der Wissenschaft Mathematik. Leider lernen auch viele Studierende, die das Mathematik- Studium durchhalten, diesen Aspekt gar nicht kennen. Sie sehen die Mathematik eher so: Ich baue mir Stein für Stein ein schönes Haus, indem ich Definitionen und Sätze lerne und die Beweise nachvollziehe. Aber dass Mathematik auch bedeutet, aus sich heraus kreativ etwas zu entwickeln, erfahren sie, wenn überhaupt, frühestens in ihrer Abschlussarbeit. Das ist schade, denn das Kreative ist ja ein sehr schöner Aspekt von Mathematik. Und er lässt sich auf jedem Niveau erleben.

Sie lehren nicht nur leidenschaftlich, sie forschen auch, auf dem Gebiet der Analysis und der Differenzialgeometrie. Wie verträgt sich das miteinander?

Die Fragen, die mich in der Forschung beschäftigen, kann ich in der Lehre nicht rüberbringen. Aber darum geht es auch gar nicht. Ich sehe es eher so, dass Forschung die Lehre befruchtet und umgekehrt. Wenn ich eine Weile nicht forschen konnte, weil mir die Zeit fehlte, dann merke ich, dass ich bei meinen Lehrveranstaltungen weniger inspiriert bin. Forschung befreit den Geist, und diese Freiheit, die brauche ich auch für die Lehre. Andersherum denke ich bei der Vorbereitung meiner Veranstaltungen, auch der im Bachelor-Studium, immer wieder über bestimmte Dinge ganz grundsätzlich nach: Was ist eigentlich die Idee? Was ist das Wesentliche dahinter, und warum machen wir das so und nicht anders? Das sind die Gedanken, die man sich als Lehrender macht und die bringen einen auch auf gute Ideen für die Forschung.

Was ist Mathematik für Sie – Beruf oder Berufung?

Auf jeden Fall Berufung! Es hat sehr lange gedauert, bis ich sagen konnte: Ich arbeite, oder ich gehe zur Arbeit – als Abgrenzung zur Freizeit. Ich mache Mathe, weil es mir Spaß macht, und ich habe das Glück, dass ich es als Beruf machen kann.

Und zum Schluss: Haben Sie einen Tipp für Mathematik-Lehrende?

Ich glaube, man muss die Leute neugierig machen. Es gibt natürlich noch ein paar andere fundamentale Ziele. Aber
Neugierde erwecken, das ist das, was am ehesten zu kurz kommt. Und Neugierde steckt in allen Schülern und Studenten drin.

 

Das Gespräch führte Kristina Vaillant,
freie Journalistin in Berlin.
www.vaillant-texte.de